Der Kabelnetzbetreiber Unitymedia wollte nichts weniger als den Onlineshop der Zukunft. Dafür setzte er auf das Service- Design-Know-how von SinnerSchrader …

Ein Teil des Projektteams aus Mitarbeitern von SinnerSchrader und Unitymedia
●Die Suche nach dem passenden Provider von Telefonie, Internet und TV ist nicht leicht: Viele Anbieter werben um die Gunst der Kunden, bieten unterschiedlichste Ta rife und Optionen an. Ein wichtiges Informationsmedium bei der Wahl des perfekten Angebots ist das Internet beziehungsweise der jeweilige Onlineshop der Anbieter. An dieser Stellschraube setzte Unitymedia an. Nach dem Zusammenschluss mit Kabel BW strebte der Kabelnetzbetreiber gemeinsam mit dem Mutterkonzern Liberty Global in Amsterdam nicht nur die Optimierung des Onlineshops an, sondern nichts weniger als den »Shop der Zukunft«. Leicht verständlich und transparent sollte er sein, außerdem nah am Kunden und emotional aufgeladen – und Spaß machen sollte er auch noch.
»Wir haben festgestellt, dass die Kunden einen anderen Zugang zu unseren Produkten suchen, als unser Shop ihnen bot«, beschreibt Peter Dlugosch, Director Digital Strategy & Experience bei Unitymedia, die Ausgangslage. »Unsere Angebotsseite war sehr technisch ausgerichtet mit dem Schwerpunkt auf unterschiedliche Optionen. Das verwirrt den Kunden aber anfangs mehr, als dass es ihm hilft. Das Angebot verstehen, sich abgeholt fühlen, eine Bindung zum Unternehmen aufbauen – das geht nicht, wenn man von Technikbegriffen und einer Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten erschlagen wird.«
»Service Design ist ein gelenkter Kreativprozess, der nur mit geschulten Experten funktioniert« Axel Averdung, Geschäftsführer Strategie bei SinnerSchrader
Der Webauftritt von Unitymedia sollte sich vom rein transaktionsbasierten Angebot hin zu einer servicebasierten Plattform entwickeln und dabei die Marke transportieren. Oberstes Ziel dabei: Bestandskunden sowie potenziellen Kunden Orientierung geben und ihnen deutlich machen, was sie von Unitymedia als Unternehmen, seinen Produkten und Angeboten erwarten können. Die perfekte Aufgabenstellung für ein umfassendes Service Design also.
Basisarbeit: Den Nutzer verstehen
Die Digitalagentur SinnerSchrader in Hamburg überzeugte Unitymedia bereits in der ersten Pitchrunde mit einem Konzept, das laut Peter Dlugosch genau ins Schwarze traf. Dafür hatte die Agentur vorab in Studien zum Nutzungsverhalten im E-Commerce recherchiert sowie interne Beobachtungen gesammelt und Befragungen unter den Kollegen durchgeführt – »denn letztlich gehören wir in diesem Bereich alle zur Zielgruppe«, erklärt Axel Averdung, Geschäftsführer Strategie bei SinnerSchrader. Er ist Service-Design-Spezialist und leitete das Team.
Nach der Auftragsvergabe stürzte sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus User-Experience-Designern, Strategen, Technikern und Beratern in die erste Phase des Service-Design-Prozesses, die bei SinnerSchrader »Verstehen & einfühlen« heißt. Insgesamt drei Phasen markieren den groben Ablauf des Service-Design-Prozesses und greifen wie Zahnräder ineinander . In dieser ersten Phase sammelt das Team so viele Informationen wie möglich, sowohl zur Marke, zum Business und zur Wettbewerbssituation als auch zu potenziellen Kunden und deren Nutzungskontext. Um die Nutzer besser zu verstehen, führte es On-Site-Befragungen auf der alten Shopsite und Webanalysen durch. Die resultierenden Hypothesen testete das Team in qualitativen Interviews mit Unitymedia-Kunden sowie potenziellen Kunden in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg, wo das Unternehmen schwerpunktmäßig aktiv ist. Nutzerbefragungen und -tests wie diese führte SinnerSchrader während des gesamten Prozesses immer wieder durch und arbeitete dabei mit dem Marktforschungsunternehmen GfK zusammen.
»Ein wichtiger Erfolgsfaktor bei Service Design ist, ein Safe Environment zu schaffen« Axel Averdung, Geschäftsführer Strategie bei SinnerSchrader
Schon die ersten Ergebnisse der Nutzerbefragung zeigten, dass der Auswahlprozess bei Telekommunikationstarifen sehr kopfbasiert und schematisch verlief. Die User hatten meist mehrere Tabs gleich zeitig geöffnet und sprangen zwischen Angeboten hin und her, machten sich Notizen auf Papier oder erstellten gar Excel-Listen. Das Problem dabei: Je mehr Optionen die Wettbewerber anbieten, desto schwerer ist der Vergleich. »Der Nutzer befindet sich in dieser Phase in Habachtstellung«, beschreibt Axel Averdung einen der ersten Insights.
Die Webanalyse bestätigte dies: »Bis zum Vertragsabschluss vergingen zwei bis 47 Tage beziehungsweise brauchte es zwischen zwei und 50 Visits«, so Axel Averdung. Bei der Analyse der Wettbewerber erstellte das Team unter anderem Screencasts der Klickstrecken, die ein Kunde bei einem Anbieter bis zum Vertragsabschluss durchläuft, und hängte diese nebeneinander, um die Abläufe zu visualisieren und zu vergleichen. Dabei zeigte sich, dass der Prozess fast absurd langwierig und unüberschaubar ist. Kein Wunder also, dass sich manche Kunden verloren oder hinters Licht geführt fühlten.
Die Ergebnisse dieser explorativen Phase verdichtete das Team in Nutzertypen und Personas und entwickelte auf dieser Basis eine Customer Journey. Die Vision aus der »Verstehen & einfühlen«-Phase ist die radikale Vereinfachung des Erstkontakts mit dem Kunden: statt einer Vielzahl von Optionen die Kernprodukte schlicht und einfach präsentieren, übersichtlich und ansprechend visualisiert. »Freiheit zum Entdecken, keine Komplexität und ein emotionaler, partnerschaftlicher Anspruch«, beschreibt Axel Averdung die Ziele, mit denen das Team in die »Gemeinsam kreieren & strukturieren«-Phase startete.




Herausforderung: Umdenken
So einleuchtend das Konzept auch ist, für ein Unternehmen mit ambitionierten Vertriebszielen ist dies ein radikaler Schritt. »Das Ziel unseres Konzepts war die Reduzierung auf das Wesentliche, die automatisch damit einherging, eine Vielzahl weiterer Optionen nicht mehr im initialen Vertragsabschluss, sondern erst im zweiten Schritt zu präsentieren«, sagt Jürgen Span ger, Account Director bei SinnerSchrader.
Diese Veränderung durchzusetzen, erforderte die enge Zusammenarbeit zwischen Agentur und dem Unitymedia-Team von Peter Dlugosch, der von Anfang an fest an den neuen Ansatz glaubte und ihn intern im Unternehmen erfolgreich durchsetzen konnte. »Sachzwänge, technische Anforderungen und gelernte Sichtweisen machen es oft schwer, ein Produkt aufzubrechen und von Kundenseite aus zu betrachten«, erklärt Dlugosch.
»Ein Projekt wie dieses muss man von Anfang an als Gemeinschaftsprojekt verstehen – sonst fährt man es gegen die Wand« Axel Averdung, Geschäftsführer Strategie bei SinnerSchrader
Die Überzeugungsarbeit erleichterte ein Moodvideo, das SinnerSchrader intern produzierte, um die Vision hinter dem Projekt klar und einfach zu kommunizieren. Der rund 4,5-minütige Clip wurde im Laufe des Prozesses zweimal um neue Erkenntnisse und Ergebnisse ergänzt und sorgte dafür, dass das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen geriet. Laut Axel Averdung sind solche Moodvideos ideal, um umfassende Veränderungen in Unternehmen vorzubereiten und zu erklären: »Statt die Fakten unserer Nutzeranalyse rein rational in einer PowerPoint-Präsentation aufzulisten, erzählen wir in den Videos eine Story aus Sicht des Nutzers, die auch emotional zugänglich ist.«
Umsetzung: Alle ziehen an einem Strang
In der »Gemeinsam kreieren & strukturieren«-Phase entwickelte und optimierte das Team sein Konzept in einer Reihe von Prototypen iterativ immer weiter, wobei es Kunden- und Nutzerfeedback stets erfragte und einband. SinnerSchrader arbeitet sich dabei grundsätzlich von der Breite in die Tiefe vor: Dabei geht es zunächst um die große Idee, die die User-Experience-Architekten und Artdirektoren mithilfe von Skizzen, Papierprototypen und User-Flow-Mock-ups visualisieren.
Je weiter die Entwicklung fortschreitet, desto mehr geht es in die Details und Wire frames und Klickdummys kommen zum Einsatz. In diesem Fall arbeitete das Team mit dem Prototyping-Programm Axure. Dieses eignet sich laut User Experience Architect Kathrin Stein vor allem dazu, Interaktionen in einem frühen Stadium zu testen. So praktisch und anschaulich diese Tools auch sind – zu früh sollte man nicht mit Klickdummys starten: »Sonst konzentriert man sich automatisch aufs Interaktionsdesign und hinterfragt die Kernidee nicht mehr«, warnt Axel Averdung.
Bei SinnerSchrader kommen die Entwickler nicht erst dann zum Einsatz, wenn es an die Programmierung und technische Implementierung geht – also in der »Weiterentwickeln & umsetzen«-Phase –, sondern sind von Tag eins an fester Bestandteil des Projektteams. »Sie sind ungemein wichtig für den Realitätscheck, damit wir keine Luftschlösser entwerfen, die nicht umsetzbar sind«, erklärt Axel Averdung. Daher gibt es zwischen den Gewerken keine feste Trennung, alle Teammitglieder sind in (fast) alle Phasen gleich stark involviert. »Projekte wie dieses müssen von Anfang an als Gemeinschaftsprojekt verstanden werden – sonst fährt man sie gegen die Wand«, erklärt Averdung.
Whitelabel für ganz Europa
Die größte Herausforderung für die Entwickler lag bei diesem Projekt darin, dass das Grundgerüst für den Shop in ganz Europa ausgerollt werden sollte. Sie mussten also eine Whitelabel-Lösung programmieren, die sich so flexibel wie möglich verhielt und sich gut auf die anderen Ländergesellschaften wie beispielsweise Virgin Media in Großbritannien übertragen ließ. Deshalb arbeitete das Technikteam von Anfang an eng mit den UX-Architekten und Designern zusammen und entwickelte parallel das technische Blueprint.
»Das Ziel unseres Konzepts war die Reduzierung auf das Wesentliche. Eine Vielzahl zusätzlicher Optionen wird erst im zweiten Schritt präsentiert« Jürgen Spanger, Account Director bei SinnerSchrader
Auch mit dem Kunden arbeitet SinnerSchrader während des gesamten Service-Design-Prozesses kokreativ zusammen – mit Unitymedia sogar besonders eng. Das Agenturteam setzte sich alle zwei Wochen mit der Digitalabteilung unter Peter Dlugosch zusammen, präsentierte seine Ergebnisse und holte Feedback ein. Ein mal im Monat gab es ein größeres Revue Meeting mit allen Stakeholdern des Unternehmens – darunter etwa die Business Owner der einzelnen Produkte und Verkaufskanäle sowie die Rechtsabteilung. Bei den Meetings war stets das gesamte Team vor Ort – entweder bei SinnerSchrader in Hamburg, bei Unitymedia in Köln oder bei Liberty Global in Amsterdam. »Für mich als UX Architect war es toll, nicht nur in meinem stillen Kämmerlein zu hocken, sondern in den Meetings meine Arbeiten selbst präsentieren und Feedback einholen zu können«, beschreibt Kathrin Stein. »Die Hierarchien im Team waren sehr flach. Das ist nicht bei allen Agenturen so.«
Ein solcher Prozess erfordert viel Offenheit und Bereitschaft auf Kundenseite, ist aber extrem lohnend für alle Beteiligten, da nur so ganzheitlich überzeugende Ergebnisse entstehen. Peter Dlugosch hat die enge Einbindung in die Service-Design-Prozesse genossen: »So nah an den Nutzer heranzurücken, hat sehr viel Spaß gemacht. Bei dieser großen und für das Unternehmen sehr wichtigen Umstellung war die umfangreiche persönliche Einbindung unserer Nutzer wirklich entscheidend.« Insgesamt gab es vier Iterationen im Entwicklungsprozess, bis das endgültige Ergebnis alle Beteiligten vollkommen überzeugte. »Die Arbeit hat sich in jedem Fall gelohnt, was Nutzertests und ein sagenhafter Conversion- und Revenue-Anstieg von je 20 Prozent pro Commercial Visit belegen«, so Peter Dlugosch.







Ausblick: Der internationale Roll-out kommt noch
Nach zwölf Monaten Designprozess begann Unitymedia im September 2015 mit dem A/B-Testing der neuen Shopsite, optimierte sie fortlaufend und schaltete sie über einen Zeitraum von drei Monaten Schitt für Schritt frei. Der Onlineshop verzichtet nun gänzlich auf das Optionsgeschäft. Die Produkte und Angebote sind übersichtlich und leicht verständlich aufbereitet und versehen mit netten und über raschenden Visualisierungen wie einem Schieberegler für HD-Qualität und Informationsgrafiken, die den Datenverbrauch aufschlüsseln.
»So nah an den User heranzurücken, hat sehr viel Spaß gemacht. Bei dieser großen und für das Unternehmen sehr wichtigen Umstellung war die umfangreiche persönliche Einbindung unserer Nutzer wirklich entscheidend« Peter Dlugosch, Director Digital Strategy & Experience bei Unitymedia
»Wir haben die rein push-orientierte Abverkaufslogik in eine echte Erlebnisplattform transformiert, die genau zwei Dinge kann: begeistern und besser konvertieren«, beschreibt es Axel Averdung. »Wir setzen auf maximale Transparenz und versuchen Sternchen auf ein Minimum zu reduzieren. Plakative und einfache Pakete stehen im Fokus«, ergänzt Jürgen Spanger. Deutschland ist der Pilotmarkt für den neuen Shop. SinnerSchrader befasst sich derzeit mit der Optimierung des Bestandskundenteils.
Die Vision von SinnerSchrader geht über einzelne Branchen hinaus: »Wir streben die Innovationsführerschaft im Bereich E-Commerce an«, so Axel Averdung. »Wir glauben, dass das E in E-Commerce für Experience stehen sollte und nicht für Electronic. In Zukunft müssen Angebote so inszeniert sein, dass sie zur Marke und deren Wertversprechen passen.« Also haben Service Designer im Bereich E-Commerce noch einiges zu tun!
Erfolg dank Service Design
Dass der neue Onlineshop von Unitymedia den Nerv der Nutzer trifft, ist vor allem dem Service Design dahinter zu verdanken – und seiner korrekten Umsetzung. »Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist dabei, ein Safe Environment zu schaffen«, erklärt Axel Averdung. Das bedeutet, dass die interdisziplinären Teams sich ausleben und frei Ideen entwickeln können. Aber auch, dass sie dabei nicht aus dem Ruder laufen und immer wieder in die richtige Richtung steuern.
»Service Design ist ein gelenkter Kre- ativprozess, der nur mit geschulten Experten funktioniert«, berichtet Averdung. »Wir setzen auf Divergence und Convergence: In Workshops und Brainstormings generieren wir Ideen, die wir anschließend gemeinsam auf ihre Relevanz überprüfen, bis wir am Schluss gangbare Lösungen gefunden haben.« Die Disziplin ist bei SinnerSchrader nicht an einer bestimmten Stelle aufgehängt. Es geht eher um das Selbstverständnis aller Beteiligten. »Service Design ist kokreativ mit dem Schwerpunkt in den Gewerken UX Design, Strategie, Design und Analyse«, erklärt Averdung.
Heutzutage komme es oft vor, dass Service Design auf den Prozess oder ein bestimmtes Methodenset reduziert werde. Doch das reine Befolgen der einzelnen Schritte und die Anwendung der Tools garantierten noch kein gutes Ergebnis, so Averdung. »Service Design ist ein sehr intuitives Gewerk, das viel Empathie erfordert. Wir versuchen immer, unsere Prozesse nicht mit Methoden zu überfrachten und uns nicht in ein enges Korsett pressen zu lassen.«
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